Phantasie und Wirklichkeit
Dass die ‚Welt im Kopf’ nicht mit der wirklichen, tatsächlichen übereinstimmt, erfährt Don Quijote (der Held in Cervantes’ (1547-1616) gleichnamigem Roman aus dem Jahre 1605) schmerzhaft am eigenen Leib, als er gegen Windmühlen kämpft, die er für Ritter hält. Seine durch Ritterromane besetzte Phantasie hindert ihn an der richtigen Wirklichkeitserkenntnis. Bereits das 18. Jahrhundert hatte sich gründlich mit der Phantasie (man nannte sie Einbildungskraft) beschäftigt; die Romantik knüpfte also auch in diesem Bereich an die Aufklärung an.

Phantasie als produktive Kraft

Sigmund Freud (1856-1939): Der Dichter und das Phantasieren [Auszug;

[...] Gehen wir daran, einige der Charaktere des Phantasierens kennenzulernen. Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit. Die treibenden Wünsche sind verschieden je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der phantasierenden Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang nach zwei Hauptrichtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige Wünsche, welche der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, oder erotische. [...]
Die Produkte dieser phantasierenden Tätigkeit, die einzelnen Phantasien, Luftschlösser oder Tagträume dürfen wir uns nicht als starr und unveränderlich vorstellen. Sie schmiegen sich vielmehr den wechselnden Lebenseindrücken an, verändern sich mit jeder Schwankung der Lebenslage, empfangen von jedem wirksamen neuen Eindrucke eine so genannte „Zeitmarke1'. Das Verhältnis der Phantasie zur Zeit ist überhaupt sehr bedeutsam. Man darf sagen: eine Phantasie schwebt gleichsam zwischen drei Zeiten, den drei Zeitmomenten unseres Vorstellens. Die seelische Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck, einen Anlass in der Gegenwart an, der imstande war, einen der großen Wünsche der Person zu wecken, greift von da aus auf die Erinnerung eines früheren, meist infantilen, Erlebnisses zurück, in dem jener Wunsch erfüllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft bezogene Situation, welche sich als die Erfüllung jenes Wunsches darstellt, eben den Tagtraum oder die Phantasie, die nun die Spuren ihrer Herkunft vom Anlasse und von der Erinnerung an sich trägt. Also Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges wie an der Schnur des durchlaufenden Wunsches aneinandergereiht. [...]

Nicht übergehen kann ich aber die Beziehung der Phantasien zum Traume. Auch unsere nächtlichen Träume sind nichts anderes als solche Phantasien, wie wir durch die Deutung der Träume evident machen können. Die Sprache hat in ihrer unübertrefflichen Weisheit die Frage nach dem Wesen der Träume längst entschieden, indem sie die luftigen Schöpfungen Phantasierender auch „Tagträume" nennen ließ. [...]

Der Dichter mildert den Charakter des egoistischen Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht uns durch rein formalen, d.h. ästhetischen Lustgewinn, den er uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet. Man nennt einen solchen Lustgewinn, der uns geboten wird, um mit ihm die Entbindung größerer Lust aus tiefer reichenden psychischen Quellen zu ermöglichen, eine Verlockungsprämie oder eine Vorlust. Ich bin der Meinung, dass alle ästhetische Lust, die uns der Dichter verschafft, den Charakter solcher Vorlust trägt und dass der eigentliche Genuss des Dichtwerkes aus der Befreiung von Spannungen in unserer Seele hervorgeht. Vielleicht trägt es sogar zu diesem Erfolge nicht wenig bei, dass uns der Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen Phantasien nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen. [...] (v 1908)

Dietmar Kamper: Macht und Ohnmacht der Phantasie [Auszug]

[...] Jeder kennt heute „Fantasy", das Stichwort für Bücher und Filme, die an einer phantastisch andersartigen Welt arbeiten, die historische Erinnerungen, wie sie auch in Märchen, Legenden und Sagen vorkommen, mit Wucherungen überziehen und darzustellen versuchen, was geworden wäre, wenn die Weltzivilisation sich nicht für Aufklärung, _ Rationalität, Vernunft und nicht für industriellen Fortschritt entschieden hätte. Hier spielt Phantasie offenbar die Rolle einer Erfindung von Gegenwelten unter Betonung der Vergangenheit. Doch Vorsicht! Oft zeigen solche rückwärts gewandten „Utopien" den Geist dieser Zeit genauer als eine wissenschaftliche Studie über den Zeitgeist. Man denke an Tolkien, man denke an White, man denke an Michael Ende. - In der entgegengesetzten Perspektive der phantastischen Erfindungen, in der Zukunft, ist „science fiction" angesiedelt. Diese stellt, im Unterschied zur „Fantasy"-Literatur, die Welt unter der Annahme dar, dass Wissenschaft und Technik sich uneingeschränkt und ohne die lästigen Einsprüche lebendiger Menschen weiterentwickelt hätten, gelegentlich bis zu einer futuristischen Zivilisation der Menschenleere. Auch hier hat man den Eindruck, dass der „Prospekt" der Menschheitsentwicklung, den die Phantasie in „science fiction" auseinanderfaltet, unfreiwillig aufschlussreich ist für die Ängste und Hoffnungen unserer Gegenwart. Vielleicht ist Wissenschaft dort, wo sie die Welt verändert, längst eine derartige „science fiction" und vielleicht sind die Schrecken einer Selbstauslöschung der Menschheit ganz real. - Am Kreuzweg von phantastischer Vergangenheit und phantastischer Zukunft steht die Literatur, die sich traditionellerweise als Sachwalterin der menschlichen Fiktionen versteht und in der jeweiligen Gegenwart ein Plädoyer für die Veränderbarkeit der unvollendeten Menschen hält. Auch sie protestiert gegen eine fix und fertige Welt, aber nicht, indem sie aus ihr herausspringt, sondern indem sie in der modernen Lebenswelt die Kräfte stärkt, die für Veränderungen gut sind, insbesondere die Phantasie. Das setzt jedoch voraus, dass die Phantasie, die Imagination, die Einbildungskraft in Spannung zu einer anderen Instanz stehen, zu einem Realitätsprinzip, zu einer historisch bestimmten Not der menschlichen Lebensfristung in der Gesellschaft. Die fiktive Welt der Literatur ist angewiesen auf eine wirkliche Welt, auf Widerstand, auf Hunger, Durst und Not, wenn sie wirksam werden soll. [...] (v 1986)

Wahrheit als Gefühlsgewissheit?

Die Frage der Anthropologie (Lehre vom Menschen) lautet: Was ist der Mensch? Aus der Vielzahl der Antworten auf diese Frage seien einige zitiert: „Unsere ganze Würde besteht also im Denken." (Pascal) „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt an ihm: er kann forschen, er soll wählen." (Herder) - „Der Mensch ist nicht umweltgebunden, sondern weltoffen. Das heißt: Er kann immer neue und neuartige Erfahrungen machen, und seine Möglichkeiten, auf die wahrgenommene Wirklichkeit zu antworten, sind nahezu unbegrenzt wandelbar." (Pannenberg) Ist es also die Vernunft, die den Menschen auszeichnet und ihm den Weg zum Glück eröffnet? Ermöglicht sie den Fortschritt, oder macht sie den Menschen gerade unglücklich?

E.T.A. Hoffmann
Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, geb. 1776 in Königsberg, nach der Trennung der Eltern bei der Großmutter aufgewachsen;
gest. 1822 in Berlin; 1792 Jura-Studium in Königsberg, 1796 Referendar in Glogau, 1798 in Berlin; Verlobung mit seiner Cousine Minna Doerffer; 1800 Assessor in Posen, 1802 Regierungsrat in Plock, wo er die Polin Michaelina Rorer-Trzcinska heiratete; neben der beruflichen Tätigkeit komponierte Hoff­mann; 1803 in Warschau, 1806 Entlassung aus dem Staatsdienst; 1808 Musikdirektor in Bamberg, 1809 erschien „Ritter Gluck", seine erste schriftstellerische Arbeit; 1813 in Dres­den und Leipzig, seit 1814 wieder im preußi­schen Staatsdienst, ab 1816 am Kammerge­richt in Berlin; seit 1819 Mitglied der Immediat-Untersuchungs-Kommission zur Untersuchung „demagogischer Umtriebe" (nach den Karlsbader Beschlüssen). -Werke: Pantasiestücke in Callots Manier (1814/15), Nachtstücke (1816/17), Sera-pionsbrüder (1819/21), Lebensansichten des Katers Murr (1819/21).

Volksmärchen und Kunstmärchen
Volksmärchen: „Eine kleine, einfache Erzählung meist wunderbaren Inhalts. Da dem Märchen das Wunderbare - selbstverständlich ist, braucht es den Abstand von der zeiträumlichen Gegenwart seiner Erzähler und Zuhörer. Es spielt im ungefähren Einst, im vagen Weitweg. Es datiert losgelöst von geschichtlich Bestehendem und Gewesenem [...]. Die Märchen folgen einem bestimmten  Handlungsschema, das lediglich jeweils mit unterschiedlichen Motiven konkretisiert und bisweilen durch Vervielfältigung seiner Grundelemente erweitert wird. Knapp gefasst:
jemand löst Aufgaben, die ihm gestellt sind und erhält dafür einen Gewinn, der ihn ein für allemal glücklich macht. [...] Solche Aufgaben sind: kostbare Gegenstände zu finden, Rätsel zu lösen, verwandelte Menschen zu erlösen. Dementsprechend wird auch mit hohem Einsatz gespielt, oft mit dem Leben. Die Aufgabe steht somit dem Preis als Hindernis im Weg. Hier kommen die übernatürlichen Mächte zum Zug, die guten, die dem Helden helfen, die bösen, die seine Anstrengungen zu hintertreiben suchen. [...] Der Handlungsaufbau ist einfach, einsträngig, gradlinig. [...] Die Erzählperspektive wechselt fast nie, sie bleibt von Anfang bis Ende beim Helden." (Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. Stuttgart 1983. S. 10ff.)      l Die „Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm erschienen 1812/15.

Sigmund Freud
Sigmund Freud, geb. 1856 in Freiberg/Mähren, gest. 1939 in London; 1860 Übersiedlung der Familie nach Wien; 1873 Medizinstudium, 1885 Privatdozent für Nervenkrankheiten, 1886 Eröffnung einer Privatpraxis in Wien; 1938 musste Freud nach London emigrieren. - Zur Einführung in die Psychoanalyse Freuds: Abriß der Psychoanalyse; Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.

Nach S. Freud ist der Traum Erfüllung vornehmlich sexueller Triebwünsche, die unterdrückt, verdrängt wurden, weil sie unerlaubt oder verpönt sind; durch die Traumarbeit werden sie maskiert und verschleiert, die Traumdeutung besteht in der Entschleierung der im Trauminhalt verborgenen Triebwünsche. Über den Traum besteht - nach Freud - Zugang zum individuellen Unbewussten. Nach dieser Auffassung sind Träume sinnvolle psychische Gebilde, die nach einer bestimmten Symbolik verschlüsselte Elemente aus unbewussten Konflikten enthalten. - Der Traum galt jahrhundertelang als die Sphäre der Berührung des Menschen mit metaphysischen Mächten, wo direkt oder verschlüsselt höhere Einsichten, Weissagungen, Botschaften, göttliche Aufträge übermittelt wurden. Seit der Romantik ist der Traum der Weg in eine Raum und Zeit aufhebende Phantasiewelt.